Geometrieunterricht in idyllischer Umgebung

Zehntklässler der Geislinger Waldorfschule üben das Vermessungshandwerk im Schwarzwald

dsc_1209Welschensteinanch im Schwarzwald ist ein malerischer Ort in einem Seitental der Kinzig (bei Offenburg). Hier auf einer Straße hinter dem Ortsende zwischen schön gelegenen Schwarzwaldhöfen werkeln fünfzehn- und sechszehnjährige Schüler und Schülerinnen in kleinen Gruppen mit Maßbändern, Schreibblöcken und kleinen optischen Apparaturen herum. Um sie herum verteilen sich die von Straßenbaustellen bekannten rot-weißen Messstangen in die Landschaft. Doch hier entsteht kein Neubau und keine neue Straße. Das Ziel der Aktivitäten ist das Messen selbst. Die Schüler sind die 16 Zehntklässler der Waldorfschule St. Michael aus Geislingen, die für ihr „Vermessungspraktikum“ extra hierher gereist sind. Binnen zehn Tagen entsteht aus zahllosen einzeln ermessenen Daten durch Rechnen und Zeichnen eine präzise, detailreiche Landkarte der unmittelbaren Umgebung mit Häusern, Straßen, Wiesen und Weiden. „Beim Vermessen bleiben Geometrie und Mathematik nicht theoretisch, sondern werden praktisch erlebt“ erklärt Felix Berlin, Mathematik- und Physiklehrer der Waldorfschule. Ein morgendlicher Unterricht bringt den Schülern die Funktion der Messgerätschaften und die mathematische Verarbeitung der Messergebnisse näher. Dann geht es hinaus ins Freie, wo die Schüler bei ihren Messungen mit dem Theodoliten, den Messstangen und Winkelprismen in das klassische Vermessungshandwerk – noch ganz ohne moderne Hightech – eintauchen. Am Nachmittag geht es dann darum, die Messungen in eine maßstabsgerechte Zeichnung zu verwandeln. Am Ende steht das möglichst anschauliche Ausführen einer maßstabsgerechten Landkarte der realen Landschaft.

dsc_1214„Man könnte meinen, heutzutage braucht doch keiner mehr diese veraltete Methode, so arbeitet ja niemand mehr – doch ist das Ziel in der Waldorfpädagogik eben nicht die Anwendung moderner Technik, sondern etwas, was mehr der psychologischen Situation eines Jugendlichen von 15 Jahren entspricht: „die innere Geste des Vermessens ist doch, sich von einem selbstgewählten Ausgangspunkt aus eine verlässliche Orientierung in der Umwelt zu verschaffen mithilfe der eigenen Fähigkeiten – da tut das Vermessen im äußeren Raum das, was jungen Menschen ein inneres Bedürfnis ist.“ so Berlin.

Ein weiteres Ziel einer jeden Klassenfahrt ist das soziale Miteinander. Die Klasse hat sich vor Ort in einem zum Gruppenferienhaus umgebauten, ehemaligen „Altenteil“ neben einem Bauernhof eingemietet, und bekocht sich dort selbst. „Bemerkenswert: da gibt es keine Beanstandungen wegen der Qualität des Essens, eher Applaus für gelungene Gerichte“ lobt Hermann Dölger, Klassenbetreuer der Schüler, der für die Zeit dieses Praktikums die Zusatzrolle eines „begleitenden Hauswirtschafters“ innehat. „Neben den Jugendlichen-“Klassikern“: Spaghetti und Hamburger speisen wir schwäbische Spätzle und auch unbekannte Gerichte, eingebracht von Mitschülern ausländischer Herkunft“. Er selbst hat für die Schüler zum Sonntag frische Hefezöpfe gebacken.

dsc_1278„Jede(r) muss sich aber auch einmal überwinden, für alle die Toiletten zu putzen. Das ist ein weiteres persönliches und soziales Übungsfeld“ ergänzt Dölger. Der guten Stimmung beim gemeinsammen Aufenthalt im Schwarzwald tut dies aber keinen Abbruch. „Wir haben uns noch einmal neu kennen gelernt“ meint der Schüler Nico Karnbach, der sich nach der Arbeit auf das Abendessen und eine Billardpartie mit den Klassenkameraden freut. So begann das Schuljahr in diesem Jahr ganz anders als sonst: Zwei Wochen später als alle anderen starten die sechzehn jugendlichen Waldorfschüler und ihre 3 Lehrer in den Schulalltag – mit einem Intensivunterricht in Mathematik, wo sie an die Erfahrung des Vermessens gleich anknüpfen können.

Solche Praktika sind in dem alternativen Schulsystem der Waldorfschulen ein wesentliches Lernmittel. In jedem Schuljahr von der siebten Klasse an findet ein Praktikum in einem anderen Arbeitsfeld außerhalb der Schule statt. Die Schüler erhalten so einen unmittelbaren Einblick in verschiedene Lebensbereiche wie Landwirtschaft (9. Klasse), Forstbetrieb (7. Klasse) Handwerk und Gewerbe (Klasse 9 und 10) sowie soziale Dienste an Menschen (11. Klasse).

Impressionen der Fahrt: